Die #NZZ am 17. Januar 2025 seiten 22-25. Über die Banalität des Folterns.
[#]Folter #Interview #Forschung
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Image 1:
«Jeder von uns
kann ein
Folterer werden.
Und weiss auch,
wie man foltert»
Wieso foltert ein Mensch einen anderen?
Selten nur, weil er Informationen gewinnen
will. Kaum je, weil es explizit befohlen wird.
Und fast nie, weil er Gewalt geniesst.
Der Politikwissenschafter Jonathan Austin hat
mit Dutzenden syrischen Folterern geredet
und sagt im Gespräch mit Michael Schilliger,
Foltern sei eine Kulturpraxis.
Jonathan Austin hat Menschen inter-
viewt, die die meisten für Mons-
ter halten. In Libanon traf er Män-
ner, die aus Syrien geflohen waren,
trank mit ihnen Cafe und Tee und
hörte zu, wie sie ihm vom Foltern er-
zählten. Es waren oft ganz gewöhn-
liche Menschen. Ehemalige Studen-
ten, Ärzte und Polizisten, aber auch
Soldaten oder Rebellenkämpfer, für
die es irgendwann normal gewor-
den war, andere Menschen zu quä-
len. Austin war irritiert. Ob der Art,
wie die Folterer von ihren Taten er-
zählten. Nüchtern, sachlich, unbewegt.
Der 37-jährige Ire, der an der Univer-
sität Kopenhagen zur Gewalt forscht,
wollte verstehen, wie sie zu Folterern,
zu Monstern wurden und was das mit
ihnen gemacht hat. Nach Jahren der
Forschung ist er überzeugt: Foltern
können wir alle. Foltern ist eine ge-
sellschaftliche Norm.
Wie ist es, einem Folterer gegenüberzu-
sitzen und mit ihm Tee zu trinken?
Zuerst war ich schockiert. Ich war 2014
in Beirut, der Arabische Frühling war
vorbei, in Syrien war Bürgerkrieg, und
es sah schlecht aus für Asad. Ich hatte
ein paar Jahre zuvor in Damaskus ara-
bische Literatur studiert und wollte mit
Menschen reden, die aus Syrien geflüch-
tet waren, um zu verstehen, was dort los
war. Ich suchte also eigentlich gar nicht
nach Folterern. Aber dann sassich damit
einem Mann, der in die syrische Armee
eingezogen worden war, und er erzählte
mir von der Arbeit an Checkpoints. Sehr
offen berichtete er von «Befragungen».
Er sagte nie «Folter». Aber er beschrieb
sehr genau, welche Techniken er für
diese «Befragungen» angewendet hatte.
Welche denn?
Einfache Techniken: Schlagen, Würgen
und so weiter. Er sprach darüber in einer
sehr alltäglichen Art. Wie über etwas, das
einfach Teil seines Lebens gewesen war.
Erstaunte Sie das?
Ich hatte zwar gewusst, dass die syrischen
Geheimdienste folterten. Ich hatte 2007 in
Damaskus Literatur studiert. Bereits da-
mals verschwanden Leute und kehrten nie
mehr zurück. Man wusste, dass hinter die-
ser oder jener Mauer Schreckliches ge-
schah. Aber in meinen Gesprächen mit
diesen vermeintlich normalen Leuten
überraschte mich, wie banal sie vom Fol-
tern erzählten. Wie es für diese Menschen
eine Routine wurde, andere zu quälen.
Sie haben zu Beginn gesagt: «Zuerst war
ich schockiert.» Und dann?
Jonathan Austin
Professor an
der Universität
Kopenhagen und
Leiter eines
Forschungsprojektes
zur Gewaltprävention
an der Universität
Genf.
Manche dieser Interviewten wurden so
etwas wie Freunde. Diese Gespräche be-
gannen als Forschungsprojekte, aber du
lernst dich immer besser kennen, und
irgendwann sassen wir in den Cafes, rauch-
ten Shisha,redeten über die Probleme,die
wir mit unseren Freundinnen hatten, oder
über Fussball - und dann plötzlich mel-
dete sich mein Gehirn, und ich realisierte,
dass diese Person vor mir vor drei oder
vier Monaten noch jemanden in einem
Kellerverlies mit Stromschlägen gefoltert
hatte. Da merkte ich, wie sehr ich mich da-
von schon innerlich distanziert hatte, wie
sich das für mich alles normalisiert hatte.
Sie haben gestützt auf diese Interviews und
weitere Forschung Ihre Dissertation ver-
fasst und beschreiben darin, wie diese Fol-
terer eigentlich normale Menschen seien,
Sie nennen sie «alltägliche» Menschen.
Vor den Interviews glaubte ich, dass
Leute, die andere foltern, Monster sein
müssen. Dann sassen da einfach junge
Männer, die studiert haben, Chemie,
Literatur, manche waren sogar Ärzte.
Ich verstand ihre Verwandlung nicht,
ich verstand nicht, wie aus solchen Men-
schen Folterer werden konnten.
Sie beschreiben das als Transition, eine
Verwandlung, und nicht als eine be-
wusste Entscheidung. Wieso?
Ein Mann, der in Syrien gefoltert hatte,
ich nenne ihn in der Dissertation Ha-
mod, sagte mir: «Niemand will es tun.
Auch nicht, wenn wir wütend sind. Es
ist einfach etwas, was passiert.»
Das klingt so, als ob er jede Verantwor-
tung von sich weist.
Zu Beginn fand ich das eine sehr schwache
Ausrede. Es ergibt natürlich Sinn, dass sie
ihre Verantwortung herunterspielen. Was
mich irritierte: Keiner stritt ab, dass er ge-
foltert hatte. Sie erzählten bereitwillig,was
sie getan hatten. Und je mehr Interviews
ich führte, desto häufiger hörte ich diese
Erklärung, dass es etwas gewesen sei, was
einfach so geschehen sei.
Sie rechtfertigen das Foltern nicht damit,
dass sie beispielsweise Informationen aus
den Gefangenen herauspressen wollten?
Manche rechtfertigten ihr Tun ideolo-
gisch. Sie fühlten sich dem Asad-Regime
zugehörig und konnten Gewalt gegen
Feinde des Regimes grundsätzlich recht-
fertigen, auch wenn sie selbst keinen Spass
daran hatten. Aber ich rede hier von nie-
derrangigen Folterern, zum Beispiel an
den Checkpoints, wo jemand angehal-
ten und dann fast schon spontan gefol-
tert wird. Vielleicht hat er etwas Falsches
gesagt, vielleicht ist die Stimmung unter
Image 2:
den Soldaten am Checkpoint angespannt,
sie sind müde, es gibt Druck von oben,
etwas ist in der Gegend passiert. Da geht
es kaum je darum, dass sie irgendwelche
Informationen aus der Person herauspres-
sen konnten. Oder um ein Geständnis.
Hatten sie Angst vor Vorgesetzten?
Die Angst des Low-Level-Polizisten im
syrischen Staat war sehr real. Gegen-
über dem Feind zu nett zu sein, konnte
ernsthafte Konsequenzen haben. Das
war auch der Grund, weshalb viele von
ihnen geflohen sind und ich sie über-
haupt treffen konnte. Man sah das auch
beim Fall des Regimes, wie viele Solda-
ten die Uniformen ablegten, sobald sie
konnten. Aber wir irren uns, wenn wir
glauben, dass es eine klare Befehlskette
gab, in der Folter angeordnet wurde.
Dabei war das aber eine der häufigsten
Erklärungen, die wir für Folter hatten:
Dass Menschen unter den richtigen Um-
ständen Befehle befolgen, auch wenn diese
ihrem Gewissen widersprechen. Das soll
ja das Milgram-Experiment belegt haben,
bei dem die Teilnehmer dazu gebracht
wurden, einer anderen Person Elektro-
schocks zu verabreichen. Eine Autori-
tätsperson brachte sie dazu, die Intensität
der Schocks schrittweise zu erhöhen, bis
zu einem Level, das tödlich gewesen wäre,
wenn die Schocks echt gewesen wären.
Esist hier wichtigzu betonen, dass der Be-
griff «Gehorsam gegenüber Autoritäten»
aufmehreren Ebenen funktioniert. Im Fall
von Folter in Syrien, etwa an Kontroll-
punkten, könnten solche Autoritätsfiguren
einfach eine dominantere Persönlichkeit
innerhalb einer Gruppe von Soldaten ge-
wesen sein- jemand mit ein paar Monaten
mehr Erfahrung — oder schlicht jemand,
der innerhalb der Gruppe aus irgend-
einem Grund respektiert wurde. «Autori-
tätsfiguren» müssen nicht unbedingt über
grosse Macht verfügen, um andere zum
Foltern zu verleiten. Zudem stehen sie oft
selbst unter dem Druck von höhergestell-
ten Personen: Dies schafft eine Art Kette
der Autorität, in der es schwierig ist, eine
einzige Person zu identifizieren, die «voll-
ständig» verantwortlich ist.
KZ-Aufseher oder der ehemalige SS-
Obersturmbannführer Adolf Eichmann
und andere Nazis verteidigten sich in
ihren Prozessen jeweils damit, dass sie
nur Befehle befolgt hätten.
In den meisten Fällen,die wir heute unter-
suchen können, gibt es keine direkte An-
ordnung, dass jemand gefoltert werden
soll. Natürlich kommen Ausnahmen vor,
zum Beispiel nach dem 11. September,
als die CIA tatsächlich glaubte, mit Fol-
ter Informationen von den Gefangenen
zu gewinnen - unter anderem in Guan-
tänamo. Aber das waren - soweit wir das
heute wissen - 200 Gefangene. Eine ver-
schwindend kleine Zahl im Vergleich zur
ganz alltäglichen Folter, die überall auf
der Welt ungeplant stattfindet. Wir brau-
chen niemanden, der uns befiehlt zu fol-
tern. Der Satz «Wir haben nur Befehle
ausgeführt» ist aber trotzdem wichtig.
Wieso?
In der Situation, in der sich die Folterer
befinden, erscheint es durchaus logisch,
das als Befehl zu sehen. Stellen Sie sich
vor, Sie sind ein russischer Soldat in der
Ukraine und Ihnen wurde gesagt, dass
die Ukrainer alle Nazis seien, die als
Nato-Vorhut Russland kolonialisieren
wollten — wenn Ihnen das immer wie-
der gesagt wird, schafft das eine Art Er-
laubnisrahmen, in dem vieles möglich
ist. Wir brauchen dann gar keinen expli-
ziten Befehl. Er wird oft zwischen den
Zeilen herausgelesen.
Auch wenn sie niemand dazu zwingt, wer-
den unter gewissen Umständen normale
Menschen zu Folterern. Weil wir Men-
schen grundsätzlich zu Gewalt neigen?
Nein, im Gegenteil. Im Zweiten Welt-
krieg beispielsweise untersuchten Psy-
chologen Soldaten der US-Armee und
analysierten, wie viele Soldaten kei-
nen inneren Widerstand verspürten,
wenn sie jemanden töten sollten. Nur
zwei Prozent der Soldaten waren hem-
mungslos und durch den Kriegseinsatz
nicht traumatisiert. Unter diesen zwei
Prozent hätten sich, so die Psychologen,
auffällig viele Soldaten mit einer aggres-
siven, psychopathologischen Persönlich-
keitsstruktur mit geringer Disziplin be-
funden. In den achtziger Jahren unter-
suchte man das bei israelischen Solda-
ten im Krieg gegen Libanon. Die Werte
waren fast gleich. Was man nicht verges-
sen darf: Auf jemanden aus der Distanz
zu schiessen, ist eine relativ distanzierte
Form der Gewalt. Folter ist viel direkter.
Einerseits greift der Feind Sie nicht an,
er sitzt Ihnen im Gegenteil hilflos gegen-
über. Es ist schr schwer, eine Rechtferti-
gung dafür zu finden, jemand Wehrloses
zu quälen. Andererseits ist es eine un-
glaublich intime Form von Gewalt.
Sie nennen Folter die sinnlichste Form
der Gewalt.
Du hast jemanden vor dir, der hilflos ist.
Dann tust du etwas und hörst ihn schreien.
‚Armeen trainieren in der Ausbildung, die
Abneigung gegen Gewalt abzuschwächen.
Man lernt als Soldat, im richtigen Moment
«Wir verfügen über diese
angeborene menschliche
Fähigkeit, in solchen
Situationen zu vergessen,
was wir gerade tun.»
möglichst automatisch zu schiessen und
das bewusste Nachdenken auszuschalten.
Wird auch Folter trainiert?
Nein. Es gibt kaum Beweise dafür, dass
irgendwo ein systematisches Training be-
trieben wird, dass irgendeine Organisa-
tion ihre Leute systematisch im Foltern
trainiert undihre Hemmschwellen abbaut.
Aus der Sowjetunion oder von der CIA
existieren aber Handbücher, die Folter-
techniken beschreiben.
Ja, von der CIA wissen wir, dass sie ein
Programm betrieb, in dem sie bestimmte
Techniken studierte und darüber nach-
dachte, was wie effektiv ist. Aber von
der CIA werden global gesehen wenige
Menschen gefoltert. Wenn man das welt-
weite Ausmass der Folter anhand der
Anzahl der gefolterten Menschen be-
trachtet, so wird die grosse Mehrheit in
Situationen gefoltert, in denen das viel
unsystematischer passiert, von Men-
schen, die nicht dazu geschult wurden.
Zum Beispiel in kleinen Polizeistationen
oder an Checkpoints in Kriegsgebieten.
Okay, es gibt in den meisten Fällen kei-
nen expliziten Befehl zum Foltern, es
gibt keine Folterausbildung, und grund-
sätzlich geniessen es Menschen nicht, an-
dere Menschen zu quälen. Wieso kommt
es dann zu so viel Folter auf der Welt?
Eine der Antworten finden wir, wenn wir
darüber nachdenken, woher die einzel-
nen Folterpraktiken kommen. Viele sind
akzeptierte Formen der Gewalt ausser-
halb des Krieges. Sie widerspiegeln be-
stimmte kulturelle Praktiken. Zum Bei-
spiel Hiebe auf die Fusssohle, das war
überall auf der Welt eine beliebte Fol-
ter- oder Züchtigungsmethode. Im Na-
hen Osten kennt man das bis heute unter
dem Begriff Falaka. Das ist teilweise auch
noch akzeptiert, um Kinder zu bestrafen.
Die Gesellschaft ist Gewalt also gewohnt.
Genau. Im Fall von Abu Ghraib zum
Beispiel, dem Gefängnis im Irak, lassen
sich verschiedene Foltermethoden auf
Praktiken zurückführen, die im Foot-
ball oder im Rugby gang und gäbe sind.
Dass etwa die Gefangenen gezwun-
gen wurden, sich quasi zu einer Pyra-
mide zu stapeln - eine Art Imitation
des «scrum», des Gedränges, das wir aus
dem Football oder dem Rugby kennen.
Oder sogenannte Initiationsriten in Bur-
schenschaften, in den frankofonen Län-
dern nennt sich das Bizutage, das sind
oft übergriffige Mutproben oder eben
kleine Folterrituale, da wird einer von
der Gruppe gegen seinen Willen ausge-
zogen und seine Genitalien mit einem
Klebeband zugeklebt. Äusserst schmerz-
haft. Bei manchen solcher Rituale kam
es auch zu Todesfällen. Es sind also
Techniken, die quasi in unsere Kultur
eingeschrieben sind. Wir kennen sie. Wir
haben sie vielleicht selbst erfahren. Und
das scheint den Leuten etwas Rechtfer-
tigung zu ermöglichen: Wenn diese Ge-
walt gegen mich ausgeübt wurde, darf
ich sie auch gegen andere ausüben.
Das geht mir etwas zu schnell. Wir alle
mögen wissen, wie man Gewalt ausübt,
wie man andere quält. Aber es ist trotzdem
ein grosser Schritt dazu, jemand anderen
aktiv zu quälen, der hilflos vor einem sitzt.
Natürlich, das Hintergrundwissen ist
nur eine Grundvoraussetzung. Wichtiger
sind zwei andere Punkte. Der erste ist der
Kontext: Krieg oder generell eine Situa-
tion, in der wir unter Druck stehen. Das
zeigt sich bereits in sehr banalen Momen-
ten. Wir wissen aus Experimenten, dass
jemand, wenn er von seiner Freundin
verlassen wird, eher geneigt ist, betrun-
ken Auto zu fahren. Gruppendruck ist
ebenfalls ısserer Zwang. Es ist sehr
selten, dass jemand alleine foltert.
Obwohl die anderen einen später quasi
als Zeugen verraten könnten?
Deswegen ist es enorm wichtig, dass
jeder in der Gruppe mitfoltert oder
irgendwie sonst Teil des Prozesses ist.
Jeder ist dann mitschuldig. Ich habe für
meine Arbeit unzählige Foltervideos ge-
schaut, es gab eine Zeit, da waren diese
Filme auf Youtube sehr einfach zu fin-
den, wenn man auf Arabisch suchte. Die
Videos waren faszinierend.
Faszinierend?
Sie zeigten, wie in den meisten Grup-
pen sehr ähnliche Schritte abliefen: wie
die Folter ritualisiert war. Wer in wel-
chem Moment rauchen durfte. Wie man
sich vom Opfer abwendete, um es nicht
in den Mittelpunkt zu stellen. Welche
Witze man machte - das alles diente
dazu, sich von der Situation zu distan-
zieren. Das ist der zweite Aspekt, der es
uns ermöglicht, zu Folterern zu werden:
Wir verfügen über diese angeborene
menschliche Fähigkeit, in solchen Situa-
tionen zu vergessen, was wir gerade tun.
Dissoziation ...
...und diese Rituale dienen dazu, dass
wir uns davon distanzieren können. Die
Rituale selbst kann man sehr weit zu-
rückverfolgen. Nur schon dass die Fol-
terer sich filmen, verleiht dem Ganzen
eine performative Qualität. Es ist nicht
real, eben weil wir es filmen. Man sieht
in den Videos, wie die Folterer für die
Kamera zu schauspielern beginnen, wie
Image 3:
sie auf die Kamera zulaufen, wie sie
Witze für die Zuschauer machen. Es be-
kommt so eine Art Leichtigkeit. Schon
in der Antike wurde Folter in einer Art
Schauspiel vor Zuschauern praktiziert.
Wie erklärten die Folterer ihren Fami-
lien, was sie taten?
Die meisten erzählten ihren Familien
nicht, was sie taten. Natürlich führte
das trotzdem zu grossen Problemen in
ihrem Familienleben. Sie lebten manch-
mal während Monaten oder sogar Jah-
ren in dieser extrem gewaltvollen Welt,
dann kamen sie zurück nach Hause, und
die Entfremdung wurde sehr real. Das
ist ein generelles Problem mit Kriegen
und nicht auf Folter beschränkt. Aber bei
der Folter kommt die Scham dazu. Die
Folterer schämen sich in einem gewissen
Sinn für das, was sie tun. Deswegen re-
den so wenige darüber, deswegen gibt es
diese ganzen sprachlichen Verrenkungen
darum herum. Man spricht von «speziel-
len Verhörtechniken» und nicht von Fol-
ter. In Syrien nannten sie die Gefolterten
«the mail», «welcome party» war der Be-
griff für die Folter gleich nach der An-
kunft im Gefängnis. Es ist janichts Heroi-
sches, jemanden zu foltern, jemanden zu
verletzen, der sich nicht wehren kann, der
einen vielleicht gar nicht angegriffen hat.
Wie viele äusserten Bedauern darüber,
was sie getan hatten?
Wenige. In einem Interview erklärte mir
Yassir, einer der syrischen Folterer, den
sogenannten German Chair, eine be-
stimmte Foltertechnik, bei der man den
Gefolterten auf einem Stuhl festbindet
und die Lehne so bewegt, dass sie auf die
Wirbelsäule extremen Druck ausübt. Yas-
sir sagte: «Es ist sehr einfach, solange man
einen Stuhl zur Hand hat. Es ist eine gute
Technik, wenn du sie richtig anwendest.»
Das klingt nicht nach viel Bedauern.
Nein, oft war es eher ein Bedauern um
sich selbst. Ich sah sie als hochtraumati-
sierte Menschen, die selbst zu verstehen
suchten, wieso sie das alles getan hat-
ten. Sie bedauerten manchmal, dass sie
geholfen hatten, die Revolution nieder-
zuschlagen, was sie schliesslich in dieses
System hineingeführt hatte. Einige er-
zählten mir von einzelnen Opfern, die
sie gefoltert hatten, oft waren es junge
Männer, die sie an sie selbst oder an be-
stimmte Familienmitglieder erinnerten.
Sie beschreiben hier ganz andere Men-
schen als etwa die Folterer im Gefängnis
von Saidnaya bei Damaskus oder auch
im Gefängnis Abu Ghraib im Irak. Be-
rühmt wurde dort zum Beispiel die Ame-
rikanerin Lynndie England, die neben
einer Pyramide aus gestapelten Men-
schen lächelnd fotografiert wurde und
beim Prozess später jegliche Verantwor-
tung abstritt. In einem Interview mit der
«Daily Mail» sagte sie, dass sie kein Mit-
leid habe mit den Leuten, die sie gefol-
tert habe. Auf den Fotos sieht sie so aus,
als ob sie die Situation geniessen würde.
Sicher gibt es Menschen, die dazu nei-
gen, keine Hemmungen zu haben, Ge-
walt auszuüben — aus welchen Gründen
auch immer. Sie fühlen sich womöglich
vonsolchen Kontexten angezogen. Lynn-
die England war schon zuvor Gefängnis-
wärterin. Auch ihr damaliger Partner,der
in Abu Ghraib ihr Vorgesetzter war und
den sie später beschuldigte, sie zur Folter
gezwungen zu haben, weist eine Biogra-
fie voller Gewaltexzesse auf. Wir haben
hier sicher eine Art Selbstselektion:
Leute melden sich für diese Aufgaben,
auch weil sie eine Neigung dazu haben.
Abu Ghraib war ja absurderweise als
eine Art Zivilisierungsprojekt geplant:
ein Ort, an dem die USA zeigen konn-
ten, wie gute Gefängnisführung geht.
Abu Ghraib ist aus diversen Gründen
spannend. Die Gewalt, die dort ausgeübt
wurde, war oft eine Reartikulation sport-
licher Schikanerituale, die etwa in den
USA beim Football-Training üblich sind.
Reartikulation oder Nachahmung?
Ich sage bewusst Reartikulation, weil da
etwas aus uns herausbricht, was wir in
uns tragen, nicht bewusst. Wir kennen
das, weil wir es irgendwo erlebt oder
irgendwo geschen haben. Wir tragen das
in uns, es ist dann aber kein bewusster
Entscheid,etwas nachzuahmen. Sondern
in der entsprechenden Situation greifen
wir unbewusst auf Dinge zurück, die wir
schon kennen. Von denen wir irgendwie
wissen, welchen Effekt sie haben. Den-
ken Sie an diese Mutprobe-Demütigun-
gen, wie sie vielleicht auch unter Jugend-
lichen üblich waren. Etwa dass Lynndie
England und ihre Konsorten die Gefan-
genen zu öffentlichem Masturbieren ge-
zwungen haben. Dazu kommt eine impe-
riale Komponente. In Syrien haben sich ja
manchmal buchstäblich Nachbarn gefol-
tert. In Abu Ghraib waren es amerikani-
sche Soldaten, die nach dem 11. Septem-
ber in den Nahen Osten geschickt wor-
den waren. Welches Bild hatten sie von
den Menschen dort? Sie sprachen nicht
dieselbe Sprache, sie verstanden nicht,
was vor Ort vor sich ging, sie hatten ein
Bild Muslimen im Irak, das diese als
unzivilisiert beschreibt. Das alles wirkte
sich aufihre Empathiefähigkeit aus. Und
dann befand sich Abu Ghraib zeitweise
«Eine Demokratie als
eine Institution ist nichts,
bei dem wir uns darauf
verlassen können, dass
es uns vor Folter
bewahrt.»
mitten in einer Kampfzone: ein Umfeld
mit hohem Stress, das Gefängnis war
quasi auch Kampfgebiet. Das ist natürlich
keine Rechtfertigung für ihr Handeln.
Strukturelle und individuelle Gründe
kommen da zusammen.
Genau. Eine Art prototypische Situation.
Und dann waren da die Fotos. Das war
die Zeit der ersten Digitalkameras mit
schlechter Qualität, aber trotzdem sieht
man auf den Fotos genau, was vor sich
geht. Abu Ghraib hat die Unschuld der
USA, ihr Selbstbild einer menschlichen
Gesellschaft, einer zivilisierten Gesell-
schaft zerrissen.
Dass es im Krieg zu Folter kommt, auch
die USA foltern, istjanun keine Neuigkeit.
Nein, das wusste man auch aus dem
Vietnamkrieg. Aber von Abu Ghraib
hatten wir nun Dokumente, die zeigten,
wie eine Gesellschaft, die vorgab, für die
Zivilisation gegen einen schlachtenden
Diktator zu kämpfen, selbst ihre Zivili-
siertheit verlor.
Sie sagen klar: Jeder kann zum Folte-
rer werden.
Ja, jeder kann ein Folterer werden. Und
jeder von uns weiss auch, wie man foltert.
Foltern alle Staaten? Oder nur die
mächtigen?
(Er lacht.) Ja, von fast allen Staaten
haben wir Zeugnisse von Folter. Mit
unterschiedlichen Intensitäten.
Das hören Schweizer nicht gerne.
Die Schweiz hat bis heute kein klares,
direktes Folterverbot, was die Uno und
Menschenrechtsgruppen schon lange
kritisieren. Fälle von brutalen, erniedri-
genden Polizeieinsätzen sind auch hier
gut dokumentiert.
Kommt es zu mehr Folter in autokrati-
schen Staaten als in Demokratien?
Klar. Aber wir wissen aus der Ge-
schichte, dass Demokratie ein fragiles
Konstrukt ist, das sich in Richtung Auto-
kratie verwandeln kann. Deswegen ist
Demokratie als eine Institution nichts,
bei dem wir uns darauf verlassen kön-
nen, dass es uns vor Folter bewahrt.
Sie sagen, Folter sei eine gesellschaftliche
Norm. Sie provozieren damit bewusst.
Ich finde das keine sehr provokative
‚Aussage, wenn man bedenkt, dass die
Menschenrechte erst eine sehr junge
Errungenschaft sind und Folter bis
dahin nicht überall geächtet war. Die
‚Aussage «Folter ist eine Norm» über-
rascht vielleicht in ihrer Absolutheit.
Aber wenn Sie sie auf konkrete Situa-
tionen anwenden, etwa auf Polizei-
gewalt, auf häusliche Gewalt, auf all
diese Prozesse, dann erkennen Sie ja
Gemeinsamkeiten. Diese Formen der
Gewalt sind verbunden.
Wir verknüpfen diese alltägliche Gewalt
aber nicht mit Folter. Das schieben wir auf
Orte wie Syrien oder Russland, autoritäre
‚Regime, Diktaturen, fremde Kulturen.
Wir neigen dazu, den anderen als gewalt-
tätiger, als wilder zu sehen. Und es ist ja
auch richtig,dass die Gewalt in Syrien oder
im Krieg in der Ukraine ein ganz ande-
res Ausmass hat als Polizeigewalt bei uns.
Die Fähigkeit, die Neigung zu foltern -
das ist etwas, was uns als Menschen eint.
Ich finde das paradox, aber ein ame-
rikanischer Archäologe sagte einmal,
dass das eigentlich ein völkerverbin-
dendes Argument sei. Wenn man gegen
biologische Unterschiede zwischen Völ-
kern und so weiter argumentieren wolle,
müsse man sich nur anschauen, wie wir
Menschen uns im Krieg verhielten. Da
verhalten sich nämlich alle gleich. Auf
der anderen Seite kann man es auch
etwas optimistischer betrachten: Wir
haben es geschafft, dass wir dieses Ver-
halten universell ächten, dass wir also
alle sagen: Nein, wir foltern nicht. Also,
um auf Ihre Frage zurückzukommen. Ja,
Folter gibt es zwar in allen Staaten. Aber
alle Staaten leugnen das auch. Ausser
vielleicht das heutige Russland.
Wie meinen Sie das?
Vergangenes Jahr verübte ein IS-Ab-
leger in einem Vorort von Moskau in
der Crocus City Hall bei einem Konzert
einen Anschlag und tötete 144 Men-
schen. Die russischen Behörden nah-
men die mutmasslichen Attentäter auf
der Flucht fest und verhörten sie. Dann
führten sie sie im Gerichtssaal vor. Die
Männer waren offensichtlich gefoltert
worden. Einer trug sogar noch etwas
Plastik von einem Plastiksack um den
Hals, einem anderen fehlte ein Teil des
Ohrs. Folter so zu zeigen, ist schr selten.
Der russische Staat wollte zeigen: Das
‚passiert, wenn man sich gegen uns richtet.
Ich interpretiere es als ein Zeichen der
Schwäche. Ein Staat, der systematisch
foltert,der sein Volk unter Kontrolle hat,
muss das nicht zeigen. In Syrien wussten
alle, wohin die Menschen verschwanden.
Foltern Russen anders?
Nicht was die Techniken angeht, aber die
Intensität: Russische Folterer sind brutaler.
Ich mages nicht, so über ein Volk zureden.
Image 4:
Wieso brutaler?
Zivilisation hat ja grundsätzlich die
Funktion, Gewalt zu reduzieren, willkür-
liche Machtausübung zu kontrollieren.
Genau so hat man aber auch gegentei-
lige Prozesse, entzivilisierende Prozesse.
Und in der russischen Gesellschaft ist
Gewalt mittels zahlreicher solcher Pro-
zesse legitimiert worden.
Eine Brutalisierung der Gesellschaft?
Ganz konkret können wir das an der
internen Kolonialisierung Russlands be-
obachten. Das jüngste, brutalste Bei-
spiel dafür ist der Tschetschenienkrieg.
Wir haben heute fast vergessen, mit wel-
cher Brutalität und Erbarmungslosigkeit
Putin Zehntausende töten liess, wie viele
Tausende Menschen verschwunden sind.
Der Krieg hat klargemacht: Auch im post-
sowjetischen Russland ist brutale, rohe
Gewalt ein legitimes Mittel des Staates.
Und das führt zu brutalerer Folter als
anderswo? In den USA kam es in den
letzten Jahren fast immer zu mehr als 600
«mass shootings» pro Jahr. Das Land führt
seit Jahren Krieg. Die Gesellschaft istdoch
ähnlich abgestumpfi, was Gewalt angeht.
Das stimmt. Die USA hatten auch in
ihrer Soldatenausbildung Probleme mit
Gewaltexzessen, aber sie haben das zu
reformieren versucht. In Russland be-
klagten sich die Kommandanten in den
neunziger Jahren ebenfalls, das Ausmass
der Gewalt in der Ausbildung sei kon-
traproduktiv für die Disziplin. Aber wir
wissen heute: Russische Rekruten wer-
den in ihrer Ausbildung selbst gefoltert.
Was bringt es, eigene Soldaten zu foltern?
Einerseits ist es eine Art Initiationsritual.
Man wird erst dadurch wirklich Teil der
Gruppe.Die russische Armee besteht auch
aus Wehrpflichtigen, die gegen ihren Wil-
len eingezogen werden. Da muss zuerst
ihre Individualität gebrochen werden.
Häusliche Gewalt funktioniert ähnlich:
«Du bist Teil dieser Familie, du bist nichts
ohne diese Familie, solange du unter die-
sem Dach lebst, gehorchst du meinen Re-
geln.» Die Armee ist die Familie.
Wie läuftdiese Disziplinierung konkret ab?
Das sind beispielsweise ganz einfache
Techniken. Man wird gezwungen, in der
Hocke an die Wand gelehnt zu stehen,
bei Temperaturen unter null im Freien
zu schlafen, bis man Erfrierungen hat.
Oder einfach ganz normale Prügelstra-
fen. Oder zum Beispiel die Gasmasken.
Gasmasken?
Das ist tatsächlich etwas, was ich sonst
nirgends gesehen habe. Eine Art simu-
liertes Ersticken mit Gasmasken. Ich
nehme an,das liegt daran, dass sie einfach
viele Gasmasken herumliegen haben.
Sie betonen in Ihrer Forschung, wie
wichtig simple Objekte sind. Das wich-
tigste Folterobjekt sei der Stuhl.
Wenn Sie jemand sind, der jemanden fol-
tern will oder muss, dann werden Sie das
in den meisten Fällen auf die einfachste
Art und Weise machen wollen, die mög-
lich ist. Sie werden also auf etwas zurück-
greifen, was gerade verfügbar ist. Da Fol-
ter ja offiziell verboten ist, kann es nichts
sein, was offensichtlich nur für Folter ge-
braucht werden könnte. Stellen Sie sich
ausserdem vor, dass Sie sich in einem
Kriegsgebiet befinden, oft sind Sie da
in einem verlassenen Gebäude, es gibt
nicht viele Objekte, viele Ressourcen, die
Sie nutzen können. Sie brauchen etwas,
was einfach ist, was verlässlich ist - und
was idealerweise den geringstmöglichen
direkten Kontakt mit dem Opfer voraus-
setzt. Der Stuhl ist da perfekt,auch weil er
eigentlich die Arbeit für Sie übernimmt.
Das klingt enorm pragmatisch.
Sie sind Soldat, es ist eine stressige Situa-
tion. Es geht auch darum: Was ist für Sie als
Folterer am wenigsten erschöpfend? Wenn
Sie es einfacher haben können, wollen
Sie Ihre Energie nicht damit verschwen-
den, jemanden kaputtzuprügeln. Stühle
sind effektiv, überall vorhanden, einfach
einzusetzen, und Sie vermeiden direkten
Körperkontakt. Dasselbe gilt beispiels-
weise für den Dulab, wo man die Beine
und den Kopf des Gefangenen in Last-
wagenreifen steckt und ihn dann in der
Körpermitte schlägt. Wieso Lastwagen-
reifen? Die lagen in Syrien überall herum.
In einem Interview erzählte der ukraini-
‚sche Menschenrechtsaktivist Maxim But-
kewitsch, wie Russen ihn gefoltert hat-
ten. Er beschrieb, wie sie kleine Feld-
radios oder Funkgeräte benutzt hatten,
um Elektroden an ihn zu hängen und
ihm Elektroschocks zu versetzen.
Diese Feldradios sind allgegenwärtig
bei den Armeen. Und zwar bei allen
Armeen. Diese Technik lässt sich nach
Vietnam zu den Amerikanern zurück-
verfolgen, aber sie kehrt überall wieder,
wo diese Geräte vorhanden sind.
Die Geschichte der Folter ist eigentlich
eine Art globale, völkerverbindende
Technik- und Kulturgeschichte.
Wir geben diese Kultur auch laufend wei-
ter. Oder halten sie am Leben. Die Fran-
zosen an die Algerier, als sie im Alge-
rienkrieg gefoltert hatten. Wie auch die
Briten bei ihren kolonialen Abenteuern.
«Folter ist ein
gedankenloser Akt.
Ein Akt, der normalisiert,
regularisiert wird,
repetitiv wird.»
Bei den Syrern sagt man, dass ehema-
lige SS-Leute den Geheimdienst ge-
schult hätten.
Ja,das könnte stimmen, ist aber nicht ein-
deutig bewiesen. Aber ich glaube nicht,
dass die Syrer anders gefoltert hätten,
wenn die Deutschen nicht gekommen
wären. Diese Techniken verbreiten sich
auch ohne externe Schulung. Denken Sie
an diese Foltertechnik, bei der man die
Opfer an den Armen hinter ihrem Rü-
cken an einem Haken aufhängt. Mit der
Zeit renken sie sich durch das Eigen-
gewicht ihre Schultern aus. In den USA
nennen sie das «prolonged stress posi-
tion». In Nordkorea kennen sie die ge-
nau gleiche Technik, sie nennt sich dort
«pigeon torture». Diese Techniken tau-
chen überall auf der Welt immer wieder
auf. Weil sie einfach sind, weil sie effi-
zient sind. Und gerade die beschriebene
Technik: weil sie von den Folterern wenig
eigene Arbeit verlangt. Das Opfer foltert
sich ja quasi selbst. Und jeder kann estun.
Auch das klingt sehr banal.
Eines der grössten Missverständnisse,
wenn wir von Folter sprechen, ist, dass
die Folterer sich enorm viele Gedanken
machen, was sie nun mit den Opfern an-
stellen sollen, wie sie sie am schmerzhaf-
testen quälen können. Folter ist ein ge-
dankenloser Akt. Ein Akt, der norma-
ert, regularisiert wird, repetitiv wird.
lis
Folterten wir brutaler im Mittelalter?
Ja.
Das kam schnell.
Ich denke, das ist der faszinierende his-
torische Aspekt dieser Sache: Als Folter
noch ein legitimes Mittel war, um Angst
in der Bevölkerung zu verbreiten, um
ein Exempel zu statuieren, war sie defi-
nitiv viel brutaler. Man riss Menschen
die Gliedmassen einzeln aus dem Kör-
per, pflegte sie noch, damit sie länger am
Leben blieben, man war sehr kreativ.
Es war ein Job.
Es gab den Henker, einen professionel-
len Folterer. Diese Leute haben sich das
wahrscheinlich selbst ausgesucht, wir
wissen es nicht mit Sicherheit. Das ist
heute anders. Die Mehrheit der Leute,
die foltern, machen das nicht als Beruf,
ausser in sehr wenigen Fällen.
Als ich von den Foltervideos las, kam mir
der Fall Pelicot in den Sinn. Die Videos
von Männern, die eine wehrlose Frau ver-
‚gewaltigen. Seither ist die Frage allgegen-
wärtig, wie vermeintlich gewöhnliche
Männer - denn das waren viele dieser
Täter, zumindest auf dem Papier - solche
Taten begehen konnten. Sie sagen: Jeder
kann, unter den richtigen Umständen,
zum Folterer werden. Jeder könnte einer
dieser Männer im Pelicot-Prozess sein?
Das ist das ethische Dilemma, das ich bei
meiner Arbeit immer wieder hatte. Ich
habe aufgeschrieben, was ich gefunden
habe. Aber es hat mich ethisch sehr be-
unruhigt. Wir haben uns in der Gesell-
schaft darauf geeinigt, dass wir als Indivi-
duen Verantwortung tragen. Und das hat
gute Gründe. Nur so können wir als Ge-
sellschaft funktionieren. Andererseits ist
es klar, dass es strukturelle Faktoren gibt,
die Menschen zu Taten verleiten. Da wird
esirrelevant,ob diese Typen in Frankreich
normal oder abnormal sind. Vielleicht
sind sie eigentlich normal, haben aber
die gesellschaftlich vorhandene Gewalt
sehr abnormal, sehr stark internalisiert.
Beide Dinge können gleichzeitig wahr sein.
Wir sagen, nur zwei Prozent der Men-
schen genössen es, Gewalt über andere
auszuüben. Aber die anderen 98 Pro-
zent sind nicht alle komplett der Ge-
walt abgeneigt. Da ist Anschlusspoten-
zial vorhanden für Gewalt, bei vielleicht
15, vielleicht 20 Prozent. Und wenn wir
die strukturellen Gründe nicht angehen,
wird sich das immer wiederholen. Diese
Wiederholungen finde ich als Forscher
am faszinierendsten. Das, was ich in den
Gesprächen mit den Syrern erfahren
habe, lässt sich auf Rituale in der rus-
sischen Soldatenausbildung zurückfüh-
ren. Und zeigt sich jetzt wieder in den
besetzten Gebieten in der Ukraine. Es
ist wie ein Kreis, in dem wir uns wie Ge-
fangene unserer selbst bewegen.
‚Sie haben sich so viele Foltervideos ange-
schaut, so viel mit Folterern geredet. Wür-
den Sie unter den entsprechenden Um-
stünden eher zum Folterer werden als ich?
Ich hoffe nicht. (Er lacht.) Aber ich wäre
vermutlich ein guter Berater.
‚Sie lachen etwas verlegen. Es ist trauma-
tisierend, solche Bilder zu sehen.
Ich musste aufhören, die Videos anzu-
schauen. Aber ich bin ja nicht der Ein-
zige, der sie sich anschaut. Auf Insta-
‚gram, auf Twitter ist es heute sehr ein-
fach, diese Gewaltvideos zu finden.
Paradoxerweise versetzt uns das in eine
Zeit zurück, die wir hinter uns gelassen
zu haben glaubten. Als der König auf
dem Marktplatz Leute foltern und hin-
richten liess. Das war damals, wie heute
auch, eine Ablenkung für die Masse. Es
zeigt, dass wir die Gewalt, die Folter er-
möglicht, auch in unseren modernen,
demokratischen Gesellschaften immer
noch normalisieren und akzeptieren.
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